Russland: Wandertage im Altai


Die nächsten drei Wochen unserer Reise führen uns durch den Altai mit seinen grasigen Steppen, beeindruckenden Bergen und zurückhaltenden Bewohnern...


Während es uns durch die Tiefen des sibirischen Hinterlandes treibt, bemerken wir einige politisch-geographische Besonderheiten unserer Reiseroute. Schaut man sich die Besiedelung der östlichen Provinzen (föderale Subjekte) Russlands an, so ist das Erbe des zaristischen Kolonisierungsprozesses bis heute spürbar. Wurde dem Land damals mit der Streckenlegung der transsibirischen Eisenbahn die russische Herrschaft eingetrieben, so haucht heute die parallel verlaufende Asphaltstraße Sibirien sein westlich-zivilisiertes Leben ein. Von diesem Hauptstrang des russischen Nerven- und Transportsystems zweigen einzelne Nebenbahnen in südlichere Gebiete ab. Diese Verwaltungseinheiten genießen als Republiken mit einer mehr oder minder großen ursprünglichen Bevölkerung stärkere Autonomie, sind ökonomisch aber auch stark unterentwickelt. Unser Abzweig von der Hauptader (der Chujskij Trakt) führt uns in die Republik Altai, einem Landstrich von legendärer Schönheit und berüchtigt alkoholunverträglichen Einheimischen.



Nächtlicher Angriff der Killermücken. Allein der Anblick dieses Bildes wirkt  retraumatisierend. Sibirische Mücken sind mindestens so schlimm wie ihr Ruf.

Während die Nacht den Mücken gehört, gehören die Straßen den Kühen

Der Altai zwischen Ballermann und Wildnis

Der Altai ist ein beliebtes und bekanntes Tourismusziel für Russen aus dem ganzen Land. Die meisten Menschen, die uns mitnehmen, fahren dort entweder schon seit Jahren hin oder haben schon immer davon geträumt. Kaum überqueren wir die Grenze, wird klar dass der Traum vom altaischen Natururlaub auch Spuren hinterlassen hat. Die Schönheit der kleinen Republik ist vielen ihrer Orte bereits zum Verhängnis geworden. Selbige sind fest in der Hand von typischem Russian-Style Wochenendtourismus: Schaschlik-Stände überall, riesige 24h-Banya-Reklame (russische Sauna) und touristische Abenteuer-Angebote für alles und jeden... Die zugrunde liegenden Dörfer sind dabei unter der Masse an billig gebauten Ferienhäußchen kaum noch zu erkennen. Hier am Anfang des Chujskij Trakts ersticken die Sinne im wabernden Benzinrauch vermüllter Feuerstellen und vollaufgedrehten Russian-Pop-Beats aus den Autolautsprechern. Ein wenig Enttäuschung macht sich breit, denn eigentlich sind wir doch hier, um unberührte Naturparadiese zu entdecken...

Schlafplatz im Wald nahe Ust-Ulagan

Wir lassen also das Mündungsgebiet des Chuskij Trakts hinter uns und machen uns auf die Suche nach der Quelle. Abgesetzt an einem kleinen Abzweig des Chukskij Trakts, der eigentlich noch weiter in den Süden ins Russisch-Mongolisch-Kasachisch-Chinesische Grenzgebiet führt, trauen wir unseren Augen kaum, denn da steht schon jemand. Mit seinem Rucksack schwer beladen in einem bunten offensichtlich unrussichen Ohm-T-Shirt und mit ausgestrecktem Daumen steht er da, der erste artverwandte Reisende, den wir seit Wochen zu Gesicht bekommen. Lyokha (Aleksey) kommt von der Krim, wohin er auch gerade nach seiner Asienreise zurückkehrt. Ein kleiner Umweg über die Altaiberge muss da auch noch drin sein. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ist er nicht minder erstaunt, uns beide hier anzutreffen. Wir lassen das Trampen mal Trampen sein und schlagen gemeinsam ein Lager am nahegelegenen Fluss auf, tauschen Erfahrung aus, genießen die gleichgesinnte Gesellschaft, während im Hintergrund einige Altais nach dem Gebirgsbach liebenden Kharius fischen.

Regenzeit ist Wanderzeit

Am Morgen stehen wir lange, lange Zeit an der verwaisten Straße. Die Fahrzeuge, die alle Viertel Stunde vorbeikommen, lassen ihrem Zustand der Bremsen nach den baldigen Tod der Insassen befürchten. Die einen sind vollbepackt, die anderen wollen nicht anhalten. Die dritten, Einheimische, wollen Geld fürs Mitnehmen, ein unangenehmes Novum auf unserer Reise. Und dann gibt es auch noch die Daumen-Konkurrenz von einheimischen Omas, die sich wählerisch die besten Mitfahrgelegenheiten schnappen.

Entspanntes Trampen mit Buch und Semechki (Sonnenblumenkernen)

Irgendwann schaffen wir es doch noch nach Multa, unserem Zielort, und werden prompt mit einem Temperaturabfall und einer Menge Regen begrüßt. Der Altai ist aufgrund der vielen Bergketten klimatisch sehr divers und die Umgebung von Multa gehört dann doch eher zu den regnerischen Teilen. Ungetrübter Stimmung machen wir uns auf, die abgelegenen Bergseen zu erkunden, natürlich zu Fuß und nicht mit den alten Armeetrucks, die bequemere Touristen ein Stück des Weges ersparen. Dass der Regen nicht nur unser Feind zwischen klammen Zeltwänden ist, sondern auch unser Freund, bemerken wir als wir ziemlich einsam vor gewaltigen Wasserfällen und so azurblauen wie eiskalten Bergseen stehen. Auch wenn eine Gewitterfront die dicken Reifenspuren der Armeetrucks zur Schlamm-Achterbahn und unseren Abstieg zur Rutschpartie macht, schön war es trotzdem.


Altais zu Pferde

Wasserfall in der Nähe von Multa

Der obere Multinskij See

Aussicht auf mehr Regen: das Wetter hat nicht nur uns zugesetzt

Banjahitze und Gletscherkälte

Auf dem Weg zurück zum Chujskis Trakt werden wir von Aleksey mitgenommen. Aleksey hat mit Mitte Dreißig ein gut laufendes Showbusiness-Unternehmen aufgebaut, bei dem er die Bühnenshows für nationale und internationale Größen technisch möglich macht. Sein Job beinhaltet daher monatelange Welttouren mit Vielfliegen und Dauerjetlag, Stress und Spaß liegen dabei stets nah beieinander. Um wieder runter zu kommen, geht er gerne in die Berge, am liebsten im Altai, wo er schon als Schuljunge seine Ferien verbracht hat.

Chujskij Trakt

Kurzerhand beschließen wir gemeinsam auf einem Campingplatz zu übernachten. Wir sind überrascht, denn dem Kaliber Alekseys Auto zufolge hätten wir ihn eher in einer der all-inclusive Luxusunterkünften vermutet. Doch gerade darauf hat der Gute eben keine Lust, erklärt er uns, als er gemütlich sein Zelt aufbaut und gekonnt Feuer macht. Er kocht uns Suppe und weiht uns erneut in die russische Banya ein, die natürlich mit einem kalten Bier abgeschlossen wird. Der Elektrolyte wegen. Versteht sich. 

Aleksey kennt die Republik Altai wie seine Westentasche. Auch er ist ein wenig enttäuscht darüber, wie sich der Tourismus in der Gegend entwickelt und sich tiefer und tiefer ins die Republik frisst. Deswegen flüchtet auch er sich immer tiefer ins Landesinnere, um den Touristenmassen und dem mit ihm einhergehenden Schaschlik-Wahnsinn zu entgehen. Mit reichlich hilfreichen Tipps und einem Satz Birkenzweige für weitere Banyabesuche ausgestattet machen wir uns auf den Weg in die Kuray-Steppe und an den Aktru-Gletscher.




Wo geht's hier nach Tuva?

Dem Chujskij Trakt fast bis zum Ende folgend kommen wir ins von Kasachen besiedelte Kosh
-Agatsch. Die sonst eng aufeinanderfolgenden Bergketten lassen sich hier mehr Zeit und das Grün von Bäumen ist komplett verschwunden. Eine gewaltige trockene Steppe mit einigen freilaufenden Kühen breitet sich aus bis zum Grenzberg am Horizont. Von hier aus soll es eine selten befahrene, inoffizielle Querverbindung geben in die deutlich untouristischere angrenzende Republik Tuva. Die würde uns die 2000 km Umweg sparen, die eine Rückkehr zum zentralen Nervensystem im Norden und das Nehmen der nächsten Abzweigung nach Süden bedeuten würde. 

Sagt man die Altai-Menschen seien lieber für sich und schon nach wenig Alkohol unberechenbar, so gelten Tuvanesen als noch eigenbrötlerischer und unter Alkoholeinfluss sogar als offen aggressiv. Andererseits haben wir von ihrer einzigartigen achtsam bewahrten Kultur gehört, in der die Traditionen des (ehemaligen) Nomadenlebens wie Kehlkopfgesang (für eine Kostprobe) noch authentisch gelebt werden. Zwei Tage maschieren wir die Marktstraße auf und ab und sprechen mit den Einheimischen, ob sie zufällig jemanden kennen, der jemanden kennt, der nach Tuva fährt. Wir bekommen eine Reihe von Tipps: Im  nächsten Dorf gibt es einen Markt auf dem alle paar Monate Tuvanesen Fisch verkaufen / Jetzt sei gerade eine schlechte Zeit, weil sie das Heu einbringen für die Pferde im Winter / Wir sollen nach UAZ-Geländewagen gucken - nur damit ist der Weg zu schaffen / 17 ist die Kennziffer eines tuvanesischen Nummernschildes / für 100 Euro könnte uns jemand zum ersten Pass mitnehmen, ab dann seien wir auf uns und die Tuvanesen gestellt- haha / für 500 Euro wäre jemand vielleicht bereit den ganzen Weg zu fahren.

Aus diesen Informationen sollen wir einen Plan zimmern wie wir nach Tuva kommen. Diesem Rate- und Glücksspiel leider nicht gewachsen, geben wir nach ermüdendem und unerfolgreichem Hin-und-Herlaufen auf. Wir schleppen uns widerwillig zum Ausgang des Dorfes, um den Chujskij Trakt wieder hoch zu trampen. Plötzlich rast ein UAZ-Geländewagen mit dem Nummernschild 17 an uns vorbei und verschwindet in den ewigen Weiten der Steppen auf Nimmerwiedersehen. Ahhh! So knapp...

Grasende Pferde in der Kuray-Steppe

Nach kurzem heftigen Sturm

Steppen sind besonders gute Schlafplätze: es ist immer schön flach und man hat eine tolle Aussicht :)

Jonathan und unsere neu gewonnenen Steppenfreundinnen Zina und Zoya,. Die beiden sind uns zugelaufen, haben uns zwei Tage durch die Steppe begleitet und unser Zelt heroisch gegen gemeine aggressive Kühe verteidigt.

Trostpreis Teletskoe See 

Katayuryg Pass

Damit wir uns wenigstens einige Kilometer Umweg ersparen und doch noch ein bisschen Neues zu entdecken, trampen wir zur wilden Südseite des Teletskoe. Ein See so schön, berühmt und wild, dass selbst Putin es sich nicht entgehenlässt, mit ihm eine Fotoserie schießen zu lassen. Nach hemmungslos schönen Gebirgswäldern und mittaglichen Dörfern mit einheimischen Akoholleichen, erreichen wir einen phantastischen Bergpass mit malerischer Aussicht. Wir wandern einen kleinen Gebirgspfad hinunter und treffen drei erstaunte Altai auf Pferden, die auch keine Lust hatten, sich den Weg mit Autos zu teilen. Es wird gelacht, geklatscht und Hände geschüttelt. Schwer bepackt wandernde Ausländer scheint es hier noch nicht so viele gegeben zu haben. Als wir wieder auf die Straße kommen, nimmt uns ein Pärchen mit Kind und Welpen mit, dass zu einer drei Auto starken Freundestruppe auf Entdeckungsreise gehört. Die Straße hört schon bald komplett auf und wir üben uns bei 10 km/h in einer unfreiwiligen Auto-Version von Twister, bei der Arme, Köpfe und Beine durch die Gegend fliegen. Ein paar Stunden später erreichen wir das ultimative Ende unserer Fahrt: das Südende des Teletskoe. Wir essen gemeinsam Plov (Reis mit Karotte und Fleischstücken) vom Lagerfeuer und befeuchten die neu geschlossene Freundschaft. Die Freunde müssen am gleichen Tag wieder zurück und hinterlassen uns beschenkt mit riesigen Tüten selbstgezogenen Gemüses, Bier und guter Erinnerung.

Seestille nach dem Sonnenuntergang

Nach ein paar Tagen Entspannung am Strand wagen wir die Überfahrt zur bewohnten, anderen Seite des Sees und verabschieden uns von der Repbulik Altai mit einer Zugfahrt ins benachbarte Khakasien. Drei Wochen durften wir die märchenhafte Schönheit des Altai genießen und für uns ist jetzt schon klar, dass wir die Altai-Gebirge noch einmal besuchen wollen - hoffentlich schon sehr bald von seiner mongolischen oder kasachischen Seite.

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