Russland am Ural: Von Fischen, Sowjets und russischer Trinkkultur



Satt und wohlgenährt werden wir von den Verwandten in die Freiheit entlassen: auf zu neuen Abenteuern! Auf zum Ergründen der russischen Landschaft und Seele! 

Per Anhalter geht es von Orenburg über Ufa in die Ausläufer des Uralgebirges. Hier im russischen Hinterland müsste der Typus Durchschnittsrusse ja zu finden sein. So jemand, der uns ein Bild davon geben kann, was charakteristisch ist - für die russische Mentalität, die berüchtigte russische Seele. Unsere erste Mitfahrgelegenheit ist dann - auch das charakteristischerweise - ein tschetschenischer (sprich kaukasischer) Kleinlasten-Fahrer. Uns beschleicht der Gedanke, dass es vielleicht gar nicht so ethnisch unkomplex und einheitlich ist, dieses Russland. Unser Fahrer erklärt, dass im Norden Hunderte Tschetschenen (und Dagestaner und Inguscheten...) zum Bewachen der Ölfelder eingesetzt werden. Sie alle bedürfen ein Stückchen Heimat, zum Beispiel in Form einer tschetschenischen Wurst, und darum tourt er alle zwei Wochen die paar Tausend Kilometer von Grozny in den Norden und zurück. Während endlose Birkenwäldchen an uns vorüberziehen, kosten wir von berühmter tschetschenischer Gastfreundschaft und werden mit Wein, Wurst und Kriegsgeschichten unterhalten. Zum Beispiel wie es ist, plötzlich ohne Reifen durch die Nacht zu brettern, weil die Seperatisten eine Transportsperre wollen und die Räder unterm Hintern wegschießen. Doch für so einen Haudegen wie unseren Fahrer ist das noch gar nichts. Ein kurzer Blick auf die Fahrerseite bleibt irritiert an den Händen hängen, die unruhig über das Lenkrad gleiten. Rasch durchgezählt endet es schon bei Neun. Was ist denn mit dem Zehnten passiert? Och, den hat er sich damals beim Arbeiten abgehackt, aber keine Zeit zum wieder Drannähen, die Kundschaft wartet, also nur ein Handtuch drum, Finger in die Hemdtasche, dann ging's weiter. Sowieso ist ihm dieses ganze Ausruhen nichts, schon seit der Jugend reichen drei Stunden Schlaf, im Anschluss kann für zwei Tage weitergefahren werden.


Der sowjetische Minenarbeiter kennt keinen Schmerz: mit bloßen Händen werfen er und sein stählerner Körper Bergspitzen um, um an ihr kostbares Inneres zu gelangen


Und dann fließt sein Herz beim ungemütlichen Anblick sich ankündigender Regenschauer und hereinbrechender Nacht vor Mitleid über. Hier wollt ihr rausgelassen werden? Aber es ist doch Nacht und nass und es gibt Bären und die Leute sind berüchtigt kriminell! Auf einmal scheinen wir wie Haudegen, die sich bei Wind und Wetter ins Gebüsch schlagen.

Jäger und Sammler-Leben im Nationalpark 

Seeblick nach und vor den Gewittern

Am nächsten Tag erreichen wir mit Zjuratkul' unseren ersten Nationalpark in Russland. Noch während wir uns orientieren und Pläne für die folgenden Tage schmieden, brechen Wassermassen aus den Wolken, sodass wir unter einer Besedka (kleiner Unterstand zum Pläuschchenhalten) Zuflucht suchen. Nach überstandenem Wolkensturz findet uns Serjoscha (Sergeij), der mit seinem Kumpel Tolja (Anatolij) hier Fischen geht. Bei Kaffee und Keksen kommen wir ins Gespräch und die beiden geben uns einen Haufen nützlicher Fischer-Tipps und Angelequippment. Mit frisch entfachtem Mut packen wir also unsere Handangeln aus und fischen, was das Zeugs hält.

Abends kehrt Ruhe ein

Während die Sonne langsam ihrer Nachtruhe entgegen geht, sorgen tausende kleine Insekten für Hektik auf der Wasseroberfläche des ansonsten spiegelglatten Sees. Ein reges Aufschnappen und Zurückplumpsen zeugt von der wertschätzenden Zustimmung zu diesem köstlichen Bankett unter der Schuppenbevölkerung. Immer wieder taucht unsere Pose unter Wasser, die Angelschnur zuckt und der Köder wird mitsamt Haken in tiefere Regionen des Sees gerissen. 

Nur nicht voreilig! Lass ihn den Wurm testen! Lass ihn sich über eine leichte Mahlzeit freuen! Lass ihn sich in falscher Sicherheit wiegen! Und dann, wenn er den Wurm ordentlich verschluckt hat, dann holst du ihn dir raus!(*Inneres böses Lachen*) 

Drei Hand voll Schnur eingeholt und noch mal drei, und dann wartet da ein ... leerer Haken. Verdammt! Immer wieder zupfen die Biester unsere mühselig gesammelten Würmer von den Haken, ohne uns auch mal ins Netz zu gehen... Und dann passiert's: Julie hat einen an der Angel und diesmal wirklich! Es ist ein kurzer Kampf. Zappelnd kommt er aus dem Wasser, Julie erschrickt: "Da ist ja wirklich was dran!". Ein Stein hebt und senkt sich und besiegelt abrupt das Schicksal des Fisches in unserer Bratpfanne. Nun, was wir voller Enthusiasmus aus dem Wasser gezogen haben, stellt sich bei genauerem Hinsehen dann doch nicht als magenfüllende Mahlzeit heraus. Aber auch hier können Serjoscha und Tolja uns Abhilfe schaffen, indem sie uns zwei ihrer selbstgeangelten Fische schenken.

Jonathan und Tolja, der uns vor dem Hungertod errettete

       
Könnt ihr erraten, wer welchen Fisch gefangen hat?


Schön kitschige Sonnenuntergänge, die beste Zeit für angehende Fischer

Der Ural zwischen Rohstofflager und Naturparadies

Einige gewaltige Gewitter und Regenfluten später ist es Zeit für uns aufzubrechen. Es geht weiter durch ein Gebiet kurz vor der Stadt Chelabinsk. Nicht nur wimmelt es hier von glasklaren Seen und Birkenwäldchen, sondern es ist auch Heimat eines der schmutzigsten Orte ganz Russlands. Die Region ist wie große Teile des Uralgebiets besonders mineralhaltig, weswegen große Minenunternehmen einige Landstriche in postapokalyptisches verseuchtes Niemandsland verwandelt haben. Wir fahren also durch ein sonnenbeschienenes grünes Fleckchen Erde: Ein See umringt von sanften Birken, Wiese und einigen Kiefern. Ein Idealbild entsprungen eher einer Käse-Werbung als der Wirklichkeit. Plötzlich taucht alptraumhaft ein riesiger smogschleudernder Industrie-Schlot inmitten eines kargen rotgräulichen Sumpfgebietes auf. An den Straßenseiten türmen sich Berge schwarzen Schotters, die ungelogen hundert Meter in die Höhe reichen und uns mehrere Kilometer begleiten. Ein wirres Netz aus rostigen Schienen wird immer wieder von grauen Betonklötzen verschluckt und für das bisschen Extra-Farbe sorgen orangene Pfützen durchsetzt mit säurezerfressenen Metallresten. Noch ein paar Kilometer weiter sind wir wieder in in unserer Traum-Werbewelt aus Birkenwald, See und Wiese.

Seeblick mal etwas anders (Karabash, Quelle: http://russianmind.eu/content/different-russia)

Yekaterinburg: Russisches Großstadtflair 


Noch einige Kilometer später erreichen wir Yekatarinenburg: die Haupstadt des Uralgebiets. Schon auf den ersten Blick merkt man dieser Stadt ihre Erfahrung mit internationalem Tourismus an, was eine angenehme Abwechslung darstellt. Weltoffen präsentiert sich Yekatarinenburg im noch andauernden Post-WM-Taumel mit Toursimus-Service-Centern, gratis Stadtkarten und einer unglaublich wissbe- bzw. neugierigen Bevölkerung, die einen gerne auch auf der Straße anhält, wenn sie fremdes Deutsch vernehmen konnte. Das spiegelt sich auch in einer boomenden Couchsurfing-Szene wider. Auf unsere drei losgesendeten Anfragen, bekommen wir im minutentakt drei Zusagen. Ein für uns sehr ungewohnter Luxus, da wir sonst deutlich mehr Zeit investieren müssen. Wir landen also bei Dasha, Misha und ihren beiden Katzen. Dasha kommt gerade aus China zurück, wo sie als Russisch(Englisch)-Lehrerin eifrigen Technikstudierenden die Rafinessen der russischen Sprache im Bereich der Eisenbahn beigebracht hat. Misha ist ein jugendlicher Immobilienmakler und Ex-Barkeeper mit ausgeprägtem Interesse für russischen Rock und Trinkkultur.

Fassade eines alten Kaufmannshauses

Typisch für Yekaterinburg sind Denkmäler des Architekturstils Konstruktivismus, sowjetische Architekturkunst um die Zeit der Revolution bis zur Mitte der Dreißiger Jahre

Das Innere der Kathedrale auf dem Blut (das Äußere ist auf dem Titelphoto zu sehen), errichtet an der Stelle, an der 1918 die Romanows, die letzte Russische Zarenfamilie, von den Bolschewiken ermordert wurde

An den Tagen machen wir uns also auf, die Stadt zu erkunden, und abends lassen wir uns von unseren Gastgebern einweihen in die Tiefen der russischen (Großstadt-)Kultur. Mal wird uns das Russische mit Lehrmaterial nähergebracht (hier eine russische Nationalkomödie als Filmtipp: "Die Besonderheiten der nationalen Jagd", 1995). Mal geht der Unterricht ins Praktische und so bekommen wir - natürlich unter beständigem Ausschenken - von den Abschiedsschnäpsen erzählt. Es scheint eine in Tradition gegossene Abfüllprozedur zu geben, die begonnen wird, wenn der Gast sich auf den Weg machen möchte. Insgesamt 10 Kurze muss der wackere Rückkehrer über sich ergehen lassen: Den ersten am Tisch, wenn er aufstehen möchte, den zweiten vor der Türschwelle, den dritten dahinter, den fünften auf dem Spazierstock, den neunten im Steigbügel und den zehnten im Sattel, wenn man noch nicht runtergeplumpst ist. Der aufmerksamen Leserin werden vielleicht einige Lücken in der Aufzählung auffallen. Wir können an dieser Stelle nur auf die rätselhafte Koinzidenz dieser Lücken mit gewissen Lücken in unserer Erinnerung hinweisen.

Die Yekaterinburger Stadtduma, auch heute noch trägt sie die Innschrift "Proletarier aller Länder, vereinigt euch"

Commrade Lenin: Quo vadis, Russia?


Commrade Jonathan: "Wo gibt's hier was zu essen, Julie?"

Yekatarinburg: die Heimat des heldenhaften Jelzin

Tagsüber versuchen wir uns auf den Beinen zu halten und so landen wir im Jelzin-Museum. Frisch eingeweiht bietet es den Interessierten in multimedialer Form das rechte Verständnis für die historische Situation und Persönlichkeit des ersten russischen Präsidenten und Nationalhelden Boris Nokolajewitsch Jelzin. Kurz gesagt: die volle Dröhnung äußerst geschickt gemachter postsowjetischer Propaganda. Anhand eines Zeitstrahls gehen wir durch die wichtige Abschnitte der sowjetisch-russischen Geschichte immer wieder erinnert an das persönliche Schicksal und die außergewöhnlichen Erfolge unseres Helden Jelzin (Man möchte fast meinen: er war ein richtiger Lenin).

Einer der beiden Höhepunkte ist ein leerer Raum mit weiß-blau-roter Lichtinstallation und riesiger gerundeter Projektionsfläche, auf der ein 5-minütiger Propagandafilm auf Dauerschleife läuft. In kreativer Animation wird die gesamte Geschichte Russlands seit der ersten Zarenkrönung 1547 umgedeutet und zwar als zwangsläufiges Hinstreben des russischen Volkes zu vollkommener Freiheit in einer Präsidialdemokratie - also einer formalen Demokratie mit Präsident des Typus "Starker Mann".

Jelzin-Museum: multimedial wirklich erstklassig

Der zweite Höhepunkt ist die Nachbildung des konservativen kommunistischen Putschversuches gegen Gorbatschow und dessen Reformen im Jahre 1991. Wir befinden uns in einem typischen Wohnzimmer der 90er Jahre gemütlich auf dem Sofa. Im Fernsehen läuft schon den ganzen Tag das Balett Schwanensee, wie immer wenn es zu Machtumverteilung im Politikgewerbe kommt.  Auf einmal schrillt das Telefon und die Stimme der Nachbarin redet hektisch von einem Angriff auf das Weiße Haus (der Präsidentenpalast in dem unser Jelzin die Stellung hält). Wir sollen mal rausschauen. Wir öffnen die Haustür und uns kommt ein Schwall an Protestparolen entgegen. Die vor uns liegende riesig erscheinende dunkle Halle ist mit improvisierten Barrikaden gefüllt und auf einer gigantischen Projektionsfläche erscheinen Original-Videoaufnahmen vom Sturm auf den Präsidentenpalast. Panzer rollen durch Moskaus Straßen, ein potentieller Bürgerkrieg droht. Untermalt von heroischer Musik dürfen auch wir zusammen mit Zehntausend Demonstranten für Gorbatschow, Jelzin und die Freiheit aufmarschieren, um den Putschversuch zu vereiteln. Jelzin hält eine heroische Ansprache auf dem Dach eines Panzers, der Putschversuch wird vereitelt, woraufhin die Sowjetunion endgültig zerbricht und die Demokratie endgültig siegt.

Die Immersion ist perfekt und keiner fragt mehr kritisch nach, ob die glorreiche Demokratiserung des Landes nicht auch ohne Massenverelendung, grassierender Alkohol- und Drogensucht und explodierender Suizidrate hätte vonstatten gehen können. Auch die allseits bekannte Alkoholkrankheit Jelzins und der Ausverkauf des sowjetischen Silbergeschirrs an Freunde und Verwandte haben in der riesigen Ausstellung leider keinen Platz gefunden. Interessanterweise war eine der ersten Handlung Putins, nachdem ihm Jelzin das Zepter der Macht übergab, die politische Amnestierung Jelzins von jeglichem vergangenen Rechtsbruch. Man stelle sich vor Schröder hätte nach Machtübernahme Kohl einfach mal so der Sicherheit halber vor jeglicher Strafverfolgung geschützt. Man muss aber auch sagen, dass der Schröder dem Kohl kein Museum gebaut hat, wie der Putin dem Jelzin ein so schönes.

Zum Abschied mit Yekaterinburg - eine Sicht von oben

Und natürlich ein obligatorisches Katzenbild  - mit Blick nach oben :)

Der Weg nach Sibirien

Von Yekatarinenburg aus trampen wir fast 2000 km zum wirklichen Beginn Sibiriens. Mit viel Glück lernen wir in der präsibirischen Pampa ein nettes Pärchen kennen, das an einer von schrägen Einheimischen belagerten Tankstelle anhält, um einen Zwischenstopp auf ihrem Weg in den Altai zu machen. So schauen wir uns eine endlose Reihe an Sumpf- und Birkenlandschaften zwei Tage aus demselben Auto an und können im Rekordtempo Sibirien bestaunen.

Ein unverhofft schöner Schlafplatz hinter einem Einkaufszentrum


Ersteinmal zieht es un in die kleinere Studentenstadt Tomsk, die eine außergewöhnlich hohe Dichte an alten sibirischen Holzhäusern aufweist und sehr geschichtsträchtig ist. Von der Stadt bekommen wir allerdings gar nicht so viel mit wie erwartet, weil wir die meiste Zeit bei spannenden Gesprächen am Küchentisch verbringen: mit unseren Hosts der wunderbaren Lilya und dem spannenden Alex, ihren Freunden und anderen Couchsurfern. In der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen irgendwo auf der Welt werden fleißig Kontakte ausgetauscht und Glückwünsche für die zuküntigen Reisevorhaben ausgeprochen.

Für einen kleinen Moment fühlt es sich an, als seien wir im geliebten Berlin. Ukulele spielen und unter der Decke kuscheln im Bus. Ungewohnt verspielt und frei im sonst eher ernsten Russland.

Altes Holzhaus in Tomsk

Goldene Kuppeln

Ein Blick vom hohen Ufer der Tom' (Fluss und Namensgeberin von Tomsk)

Nach dem kurzen Zwischenstopp brechen wir auf, die Berge des Altai zu erklimmen, ein langersehntes Ziel, von dem wir in unserem nächsten Eintrag berichten werden.

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